Liepaja Karosta

Liepāja: Lettlands Bitter Sweet Symphony

Als Manchester Lettlands bezeichnen manche Liepāja, als rau und doch lebendig. Keine andere Stadt in Lettland lässt sich dabei von zwei so unterschiedlichen Seiten kennenlernen: Der nördliche Stadtteil Karosta, von ziemlich hässlichen Plattenbauten geprägt, war einst von Liepāja abgeschottet und beherbergt ein 1 THING TO DO der schaurig schönen Art am Ostseestrand. Geschrieben von Marc.

Karosta: Die dunkle Seite von Liepāja

“Wo steckt eigentlich John?”, frage ich mich und begebe mich weiter in Richtung Dunkelheit. Mit jedem Schritt wird es schwärzer um mich, bis das Rauschen der Ostsee kaum noch zu hören ist. Am Ende der Tunnel, in denen ich mich Stück für Stück nur langsam voran taste, schimmert das Licht der Frühlingssonne an diesem Sommertag im Mai. Das Licht hinter mir wird immer schwacher, während ich mich weiter ins Ungewisse hinein wage.

“Er wird doch nicht?”, beginne ich mich zu fragen, ohne den Gedanken zu Ende zu bringen. Vor mir tut sich ein großes Loch im Boden auf: “Er wird doch nicht!” – Von John ist weit und breit keine Spur in diesem verfallenden Schacht. Unsere Wege trennten sich, weil ich noch ein paar Fotos schießen wollte, als er sich bereits in den Tunnel traute. Das Übliche. Nun stehe ich hier in der Finsternis. Alleine und ohne einen blassen Schimmer, ob er an der nächsten dunklen Ecke wartet, um mich zu erschrecken, oder bereits das Weite gesucht hat. Er wird schon nicht.

Liepaja Lettland
Die Forts an der Ostseeküste vor Karosta sind Überbleibsel der ehemaligen russischen Marinebasis.
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An einigen der Forts von Karosta haben sich Graffiti-“Künstler”ausgelassen.

Karostas russische Vergangenheit

Wir befinden uns auf einem Gelände der einstigen ↠ Marinebasis der Russischen Ostseeflotte in Karosta, einem ziemlich tristen Stadtteil im Norden der lettischen Küstenstadt Liepāja. Die verfallenen Forts an der Ostsee wurden zwischen 1893 und 1906 errichtet, bereits 1914 wieder aufgegeben und sind seitdem der mal mehr, mal weniger rauen See preisgegeben. Einige der wuchtigen Forts des früheren Kriegshafens des Russischen Reiches sind inzwischen von der Ostsee umschlungen. Ihre Tage sind längst gezählt, doch für uns bieten sie noch immer eine nette Spielwiese für zwischendurch.

Das Ende des Tunnels naht, ohne dass ich auch nur einen Mucks von John höre. Keine Fußstapfen im feuchten Geröll, kein Atmen, kein Wort, kein gar nichts. Ich hole tief Luft, als ich die Dunkelheit verlasse und die Ostsee wieder vor Augen habe. Sie ist milde heute – eigentlich –, doch auch die sanftesten Wellen dieses Tages wirken gefährlich, wenn sie auf den teilweise versunkenen Betontrümmern des einstigen russischen Stützpunkts brechen.

Liepaja Lettland
Ein paar der Baracken von Karosta haben es sich inzwischen in der Ostsee gemütlich gemacht.
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Keine bösen Wörter!

Karosta: Von Liepāja abgeschottet

Ich drehe mich vorsichtig einmal um die eigene Achse, während meine Blicke die Suche nach John fortsetzen. Ohne Erfolg. Zunächst. Ich steige auf eines der Forts, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Und dann steht er da, blickt mit weit geöffneten Augen in Richtung Horizont und atmet die Stille dieses schaurig schönen Ortes an der lettischen Ostseeküste auf.

Wieder vereint setzen wir unsere Stippvisite in ↠ Karosta fort, diesem seltsamen Fleckchen Baltikum. Bis zur lettischen Unabhängigkeit blieb Karosta russischer Militärstadtteil, zwischen Karosta im Norden und Liepāja im Süden gab es so gut wie keinen Austausch. Durch die Auflösung der Sowjetunion und dem damit verbundenen Soldatenabzug verlor Karosta zwei Drittel seiner Einwohner:innen. Die Verwahrlosung ist noch heute spürbar, das bemerken wir bei jedem Schritt durch Karostas Straßen, die von wenig ansehnlichen Plattenbauten dominiert werden. Einzig die goldenen Zwiebeltürmchen des ↠ St.-Nikolaus-Doms funkeln im Sonnenlicht und schaffen einen Kontrast, der so typisch für manchen Ort in Osteuropa ist.

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Im Zentrum von Karosta thronen die Zwiebeltürmchen des St.-Nikolaus-Doms über Plattenbauten.
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Karosta war einst beinahe vollständig von Liepāja abgeschottet. Wirklich lebendig geht es hier noch heute nicht zu.

Ostseestadt Liepāja

Obwohl beide direkt aneinander grenzen, kostete der Versand einer Postkarte von Karosta nach Liepāja genauso viel wie der “etwas” längere Weg nach Wladiwostok im äußersten Osten Russlands, so liest man. Die Gegensätze sind noch heute spürbar: Hier das trostlose Karosta, dort das vergleichsweise jugendlich daherkommende Liepāja, bekannt für seinen Bilderbuchstrand und den Mythos als lettische Rockhauptstadt: 1968 fand hier das erste Rockfestival der Sowjetunion statt.

Glanz und Gloria versprüht aber auch Liepāja nicht. Wir müssen schon genau hinschauen, um Details wahrzunehmen, die uns ankommen lassen. Neben unserem Hotel steht die Dreifaltigkeitskirche, deren Schönheit im Verfall liegt. In Richtung Ostseestrand gibt es die eine oder andere hübsche Jugendstilvilla zu begutachten. Am Abend schimmert die tief stehende Sonne durch die bunten Wimpel am “Denkmal für die auf See verunglückten Seemänner und Fischer”. Am Ende wären wir nicht traurig gewesen, hätten wir Liepāja nicht kennengelernt. Doch vielleicht hätte uns auf unserer ↠ Baltikum-Reise auch etwas gefehlt?

Liepaja Lettland
Liepāja gilt als Lettlands Hauptstadt des Rocks und brachte so einige bedeutende lettische Musiker hervor.
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Auch in den meisten Straßen von Liepāja zeigen sich bröckelnde Fassaden, jedoch mit deutlich mehr Charme als in Karosta.

Sonnenuntergang in Liepāja

Am Abend laufen wir zum Sandstrand vor Liepāja, an dem sich trotz Sommerstimmung nur noch ein paar wenige Menschenseelen aufhalten. Da ist es wieder, dieses Gefühl, das wir an unseren Auszeiten an der Ostsee so lieben und kürzlich erst auf dem litauischen Teil der ↠ Kurischen Nehrung in vollendeter Schönheit erleben durften.

Die Sonne steht inzwischen so tief, dass selbst die kleinsten Wellen im Sand Schatten werfen. Der Himmel babyblau und rosarot, sind nun auch die sanften Dünen um uns herum in Pastellfarben getüncht. Vorhin haben wir uns eine kleine Flasche ↠ Balzams gekauft, den für Lettland typischen Likör. Wir nehmen jeweils einen großen Schluck, das Gemisch aus Kräutern, Blüten, Ölen und Beeren schmeckt bittersüß. Und damit irgendwie nach Liepāja.

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Schauplatz unserer bittersüßen Gaumenfreuden: die Dünen von Liepāja.
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Wimpelketten wehen am Denkmal für die auf See gefallenen Seefahrer und Fischer ganz in der Nähe des Sandstrands von Liepāja.

In Kürze: Unser 1 THING TO DO für Liepāja, Lettland

Was? Einen Streifzug durch Karosta und seine verfallenen Forts zu unternehmen.
Wo? Karosta befindet sich im Norden von Liepāja. Wenn du dein Quartier nördlich des Bahnhofs beziehst, kannst du den Weg nach Karosta relativ bequem zu Fuß bewältigen. Ansonsten empfiehlt sich eine Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr (Busse 1, 3, 4, 7 oder 8). Auf die verlassenen Forts triffst du nach einem Strandspaziergang in Richtung Norden, nördlich des Nordpiers.
Wie viel? Es fallen lediglich ggf. Kosten für die Busfahrt hin und zurück an, die jedoch sehr, sehr überschaubar sind. Tipp: Im ↠ Kafejnīca Rietumkrasts am Nordpier gibt es günstige Snacks mit Meerblick.
Wieso? Um bittersüße Kontraste zu erleben und in Gedanken zu versinken, wenn inmitten des Verfalls goldene Zwiebeltürmchen gen Himmel wachsen.

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Die Forts von Karosta befinden sich nördlich dieses kieseligen Strandabschnitts.
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Liepājas Variante der Wege zum Glück: Der Strand von Liepāja weiter im Süden bietet dagegen feinsten Sand.

Liepāja war die erste lettische Station unserer Baltikum-Reise, die in ↠ Litauen startete. Vorherige Station war ↠ Klaipėda, von wo aus du mit dem Bus nach Liepāja anreisen kannst. Weiter ging es für uns über das idyllische ↠ Kuldīga nach ↠ Rīga, der letzten Station unseres Trips. Wenn du auf der Suche nach weiterer Inspiration für deine Reise bist, empfehlen wir dir außerdem unsere ↠ Lettland-Reisetipps.

Reisen um zu reisen!
John & Marc

Liepaja Lettland

Veröffentlicht oder inhaltlich überarbeitet am:


2 Antworten zu “Liepāja: Lettlands Bitter Sweet Symphony”

  1. Ein richtiges Kontrastprogramm ist auf euren Fotos zu sehen. Da wird wohl nicht wirklich viel “gemacht” an vielen Stellen. Manche Orte sehen wirklich verwahrlost und heruntergekommen aus. Wahrscheinlich wird nur in Riga so richtig viel Geld investiert. Über diese Stadt habe ich schon etliche Berichte gesehen! War schön, mal wieder etwas von euch zu “lesen”. War ja längere Zeit nicht viel los und komischerweise bekomme ich auch keine Nachricht, wenn ihr was veröffentlicht. Habe es nur auf Twitter entdeckt. Liebe Grüße nach Berlin, Sigrid

    • Hallo Sigrid,

      danke für den Kommentar, und ja – lange nichts gehört! Wir sind gerade beide in unseren eigentlichen Berufen sehr stark eingespannt mit massig Überstunden und allem Drum und Dran, aber wir schaufeln uns langsam wieder frei, auch wenn es dieses Jahr wohl generell etwas weniger neue Artikel werden. Das hat mittelfristig aber eher damit zu tun, dass ab Mai einige Reisen anstehen und wir gar nicht dazu kommen werden, alles sofort in Worte zu fassen. Insofern gute Nachrichten. 🙂

      Karosta hat uns in der Tat etwas sprachlos gemacht angesichts der Kontraste, aber die Tristesse liegt eben auch an der jüngeren Geschichte, weil alles verwahrloste, als die “Sowjets” abzogen. Riga jedoch hat auch seine Schmuddelseiten, aber natürlich ist das Zentrum samt Altstadt besonders herausgeputzt worden. Der Artikel dazu kommt ja bald. 🙂

      Schön, wieder von dir zu lesen! Wir schauen auch gleich mal wieder rein.

      Liebe Grüße
      John & Marc

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