Insel Swijaschsk Kasan

Wolga-Insel Swijaschsk: Russland auf 40 Quadratmetern

2017 erst wurde ein Teil der Kloster-Insel Swijaschsk zum UNESCO-Weltkulturerbe gekürt. Spätestens seitdem zieht das Eiland in der Wolga immer mehr das Interesse überwiegend russischer Reisender auf sich. Für mich waren es weniger die religiösen Bauwerke, die meinen Besuch auf Swijaschsk zum Erlebnis machten. Vielmehr lernte ich die Insel – und mit ihr auch Russland – an einem geheimnisvollen Ort besser kennen, den die meisten wohl links liegen lassen. Geschrieben von Marc.

Mit der Fähre von Kasan nach Swijaschsk

Die Wolga, so liest man, ist ein Symbol für die Russische Seele. Als längster und wasserreichster Fluss Europas steht sie für die Größe des Landes. Auf 3.520 Kilometern Länge durchfließt sie Städte wie Jaroslawl, Nischni-Nowgorod, Samara, Wolgograd und eben Kasan. Bis sie ins Kaspische Meer mündet, das ohne sie wohl kaum größter See der Erde wäre. Die Wolga scheint endlos, gar unvergänglich. Kein Wunder, dass ich selbst mit ihr ein erstes Gefühl der Einsamkeit im großen Russland verbinde.

Vom Wolga-Hafen verkehrt von Mai bis September täglich eine Fähre zwischen Kasan und Swijaschsk, einer Insel circa 30 Kilometer westlich der tatarischen Hauptstadt. Ich bin der einzige Ausländer an Bord. Eine Gruppe Studentinnen ist auch an Bord, außerdem einige Babuschki, eine Truppe Jugendlicher in Uniform und zahlreiche weitere russische Tourist:innen. Während über dem Boot die Möwen kreisen, würdigen sie dem Ausländer keines Blickes. Entweder ist es Schüchternheit gegenüber dem Fremden, oder aber schiere Ignoranz.

Swijaschsk Kasan Wolga
Abfahrt am Flusshafen von Kasan in Richtung Swijaschsk.
Swijaschsk Kasan Wolga
Aus der Ferne grüßen bereits die Turmspitzen von Swijaschsk.

Auf der Wolga bei Kasan

Zwei lange Stunden dauert die Fahrt von Kasan nach Swijaschsk. Zwischendurch macht die Fähre noch ein paar Mal Halt in kleineren Dörfern am südlichen Ufer der Wolga. Der längste Fluss Europas ist hier trüb und wild. Eine frische Brise treibt das Wasser vor sich hin und lässt die Fähre munter hin und her schaukeln.

Ins Auge fallen vor allem die hölzernen Hafengebäude, an denen wir – oder besser: die anderen und ich – Station machen. Das blaue Hafenhaus in Werchny Uslon scheint im Wasser zu schwimmen. Nur eine ältere Dame verlässt hier das Schiff, die meisten pendeln über die nahegelegene Autobrücke nach Kasan. Wir fahren vorbei an Wolga-Stränden, über denen sich Datschen reihen, und weiter an einem Kloster, dessen blaue Kuppeln den Himmeln widerspiegeln, der über mir nach und nach aufreißt.

Swijaschsk Kasan Wolga
Viel mehr Russland geht nicht: Hafengebäude von Werchny Uslon auf dem Weg nach Swijaschsk.
Swijaschsk Kasan Wolga
Das südliche Ufer der Wolga bei Kasan ist gesäumt von kleinen (Datschen-)Siedlungen.

Die Geschichte von Swijaschsk

Kurz darauf sehe ich Swijaschsk, wo heute gerade einmal 276 Menschen leben, zum ersten Mal am Horizont. Im 16. Jahrhundert war Swijaschsk ein wichtiges Handelszentrum, ehe die damalige Stadt ihre Bedeutung an das aufstrebende Kasan verlor. Mit dem Verlust seiner wirtschaftlichen Rolle blühten jedoch die auf Swijaschk gegründeten Klöster auf. In tatarischem Gebiet gelegen dienten sie als Ausgangspunkt für die Christianisierung der Region, die allerdings niemals durchschlug: Noch heute leben zu gleichen Teilen Russ:innen und Tatar:innen in Kasan.

Nach Gründung der Sowjetunion wurden die Klostergebäude umgewidmet, es entstanden etwa ein Gefängnis und eine psychiatrische Klink. 1997 erst eröffnete das Mariä-Himmelfahrt-Kloster wieder, seit 2017 zählt es gemeinsam mit der gleichnamigen Kathedrale zum Weltkulturerbe. Ihre goldenen Spitzen funkeln schon aus weiter Entfernung in der Sonne. Ob der Funke auch auf den einsamen Deutschen überspringen wird?

Swijaschsk Kasan Wolga
Seit 2017 Teil des UNESCO-Weltkulturerbnis: die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale.
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Turm einer kleineren Kirche im Norden der Wolga-Insel.

Kleines, großes Swijaschsk

Swijaschsk ist nicht gerade groß – und läuft so Gefahr, schnell zu voll zu wirken. Jene Gäste, die die Wolga-Insel mit der Fähre besuchen, sind verglichen mit all jenen, die per Auto oder Bus anreisen, deutlich in der Unterzahl. Ich versuche es mit der bewährten Taktik und laufe dahin, wo alle anderen nicht hinlaufen, um meine Ruhe zu haben. Wenn schon einsam, dann richtig. Doch ich scheitere: Viele Wege gibt es auf Swijaschsk nicht, außerdem habe ich Hunger und hole die anderen auf dem Weg zum nächstbesten Café wieder ein.

Enttäuscht bin ich nicht, als ich das Weltkulturerbe schließlich direkt vor meiner Nase habe. Allerdings ist nur ein kleiner Bereich von außen überhaupt zugänglich, und genau dort versperren schnatternde Tourist:innen laufend den Weg. Beeindruckender fand ich da schon einen weiteren Klosterkomplex im Osten der Insel, auf dem drei verschiedene Stile aufeinandertreffen, wo die hölzerne Dreifaltigkeitskirche neben der weißen St.-Sergius-Kirche neben der backsteinernen Kathedrale Unserer Lieben Frau steht.

Swijaschsk Kasan Wolga
Kirchlicher Stilmix: Backstein trifft Holz trifft unschuldiges Weiß.
Swijaschsk Kasan Wolga
Kathedrale Unserer Lieben Frau im Johannes dem Täufer gewidmeten Klosterkomplex im Osten des Eilands.

Die andere Seite von Swijaschsk

Nach nur anderthalb Stunden ereilt mich das Gefühl, alles auf Swijaschsk gesehen zu haben. Obwohl ich meine Entdeckungstour gewohnt langsam angegangen bin und manchen Weg gar zweimal abgelaufen bin. Ich bin nicht einmal hungrig genug, um im ↠ georgischen Imbiss ein Chatschapuri zu verdrücken und so die Zeit totzuschlagen. Erst in guten vier Stunden fährt die Fähre zurück nach Kasan. Sie meint es gut mit Slow Travellern, zu denen ich heute aber nicht gehöre.

Ich entschließe mich, zunächst an der Westküste von Swijaschsk weiter zu spazieren. Dort, wo es keinerlei Sehenswürdigkeiten gibt und ich – trotz der klitzekleinen Größe der Insel – nicht Gefahr laufe, in den nächsten Touri-Trupp zu marschieren. Es ist die windige Seite des Wolga-Eilands, die Gräser am Ufer werden immer wieder von Böen niedergepeitscht. Auch ich selbst werde Mal ums Mal aus der Bahn gepustet, während in der Ferne die ersten dunklen Wolken heranziehen.

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Blick über die Wolga an der Westküste von Swijaschsk.
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An ihren Küsten fällt Swijaschsk mitunter steil in Richtung Ufer hinab.

Nervenkitzel an der Wolga

Ich laufe vorbei an kleinen Holzhäusern, von denen die wenigsten bewohnt scheinen. Ein paar Einheimische werkeln im Garten, die meisten anderen sind wahrscheinlich arbeiten oder leben unter der Woche ohnehin woanders. Ich nähere mich einem verlassenen Holzhaus, dessen Eingangstür vom Wind ständig auf- und zugeschlagen wird. Der Himmel hat sich weiter verdunkelt, von anderen Menschen ist hier keine Spur mehr. Ich höre nichts als den Wind, der um meine Ohren säuselt und weiter unten Wellen ans Wolga-Ufer peitscht. Eine mystische Stimmung.

Meine Neugierde wächst. Ist hier wirklich niemand? Guckt auch wirklich keiner? Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, einen Blick ins Innere des verlassenen Holzhauses zu werfen. Gibt schließlich auch kein Schild, das mich vor Irgendetwas warnen möchte. Der Wind schlägt die Tür noch einmal zu, bis sie sich wieder öffnet und sperrangelweit aufsteht. Wenn das keine Einladung ist.

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Verlassenes Holzhaus bei einem Spaziergang abseits der Klosteranlagen.
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Wer kann da nein sagen? Ich scheinbar nicht.

Winziges Swijaschsk, riesiges Russland

Als ich auf der Schwelle stehe, vergewissere ich mich noch mal, auch wirklich alleine zu sein. Und trete schließlich ein. Schnell bestätigt sich mein Eindruck: Das Holzhaus ist verlassen, seit Jahren scheint sich niemand mehr darum gekümmert zu haben. Im Flur mit seinen pastellgrünen Wänden liegt ein alter Kühlschrank auf dem Boden. Die braune Holztür zum Wohnzimmer steht offen, darin steht ein zerbrechlicher Stuhl, auf dem Boden liegen Bretter, Farbe bröckelt von den Wänden.

Von draußen blinzeln mir die grünen Wiesen von Swijaschsk zu. Es muss ein idyllisches Leben hier sein, umringt von der Wolga, der russischen Seele. Abgeschieden, einsam, und doch mittendrin im Herzen Russlands, wo auf Kreuzfahrtschiffen Kalinka und Katjuscha angestimmt werden, wo Russland endlos scheint. Auf dieser kleinen Wolga-Insel wird mir so zum ersten Mal wirklich bewusst, wie groß, wie ungreifbar dieses Russland ist. Ich beginne zu realisieren, wie klein sich der Mensch fühlt, der hier lebt, der hier reist. Und beginne so, mich in meiner Einsamkeit einzurichten.

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Eingangsbereich des verlassenen Holzhauses.
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Klein, aber fein: Trotz aller Morbidität konnte ich mir hier ein hartes, aber teilweise auch gemütliches Leben vorstellen.

In Kürze: Mein 1 THING TO DO für Swijaschsk

Was? Dich auf der Wolga-Insel Swijaschsk in das Leben der Einheimischen hineinzuversetzen – und als i-Tüpfelchen vielleicht sogar ein verlassenes Holzhaus zu begutachten.
Wo? An der Westküste von Swijaschsk, wo sich kaum jemand anders hinverirrt. Die Insel erreichst du zum Beispiel vom ↠ Kasaner Flusshafen aus (Retschnoj port, Buslinien 3 und 5 ab Ploschad Tukaja). Der Wasserweg hat den Vorteil, die Wolga vor Kasan auch wirklich zu erleben.
Wie viel? Hin- und Rückfahrt mit der Fähre kosten 200 Rubel, umgerechnet etwas mehr als 2,50 Euro (Stand: Juni 2018).
Warum? Um die abgeschiedene Seite von Swijaschsk kennenzulernen und der russischen Seele dabei ein wenig näher zu kommen.

Swijaschsk Kasan Wolga
Blick nach außen.
Swijaschsk Kasan Wolga
Inselhafen von Swijaschsk, der zwischen Mai und September per Fähre mit Kasan verbunden ist.

Wolga-Insel Swijaschsk: Abreise zurück nach Kasan

Nach der Entdeckung meines 1 THING TO DOs für Swijaschsk kamen die Unwetterwolken immer näher, weshalb ich mich entschloss, nicht weiter auf die Fähre zu warten. Die Touristen-Information im Süden der Wolga-Insel half mir in einem Dialog mit Händen, Füßen und dem Wort “Taxi”, ein eben solches zu finden. Öffentliche Busverbindungen nach Kasan gibt es nicht. Die Fahrt kostete mich circa 25 Euro. Solltest auch du nicht warten wollen oder können, kommst du günstiger weg, wenn du dich nur bis nach Nischnije Wjasowyje fahren lässt und an der Station Swijaschsk in die Vorortbahn steigst. Das dauert insgesamt aber natürlich auch etwas länger.

Einige Szenen meines Ausflugs von Kasan nach Swijaschsk kannst du auch im ↠ YouTube-Video zu meiner vierwöchigen ↠ Russland-Reise nachempfinden. Ein 1 THING TO DO habe ich übrigens nicht nur für die Wolga-Insel, sondern auch für Kasan entdeckt. Und dieses ist nicht minder – na ja, nennen wir es – “alternativ”. Mehr dazu erfährst du in meinem ↠ Kasan-Reisebericht.

Reisen um zu reisen!
John & Marc

Swijaschsk Kasan Wolga

Veröffentlicht oder inhaltlich überarbeitet am:


3 Antworten zu “Wolga-Insel Swijaschsk: Russland auf 40 Quadratmetern”

  1. Ich war im Dezember 2008 in Kazan im Urlaub und habe damals ebenfalls die Insel besucht. Meiner Reiseführerin und mir wurde in der Maria Himmelfahrt Kathedrale die Seitentür der Ikonenwand geöffnet. Hinter der Ikonenwand befindet sich eine Wandmalerei mit der Darstellung der drei Heiligen der Obstkirche ohne Heiligenschein. Eine Darstellung, die es nur dreimal gibt. Meine Reiseführerin gestand mir, diese selbst noch nie gesehen zu haben. Sie war schon 10 Jahre als Reiseführerin tätig. Dies war wohl nur möglich weil unser Fahrer den Priester kannte und ich im Winter dort Urlaub machte und keine anderen Touristen da waren.

  2. Mal wieder ein sehr spannender Einblick in einen Teil der Welt, von dem ich keine Vorstellungen habe oder hatte. Das verlassene Haus wirkt tatsächlich “gemütlich” man, kann es sich zumindest vorstellen.
    Liebe Grüße
    Dorie von http://www.thedorie.com

    • Dankeschön! 🙂

      In Russland hatte auch ich vorab von den wenigsten Orten eine wirklich Vorstellung. Das geht denke ich vielen so, weil nicht allzu viel darüber geschrieben und veröffentlicht wird. Aber so macht das Bloggen dann auch besonders viel Spaß!

      Liebe Grüße
      Marc

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