Zwischen Kuhfladen, Schäferhunden und den Skeletten verstorbener Weidetiere widerfuhr uns in den Südkarpaten unsere bislang skurrilste Wanderung. Beim Wandern bei Sibiu schlugen wir uns von Sibiel nach Săliște durch und entdeckten auf dem Weg die Hochwiesen von Crinţ. Den Sinn dieser Wanderung durch die Südkarpaten konnte uns erst ein weiser Rumäne erklären. Geschrieben von Marc.
Wandern in den Südkarpaten
Es soll ein Vorgeschmack werden auf das, was morgen folgen soll. Nachdem wir die rumänische Stadt Sibiu bereits erkundet haben, steht unsere Rückkehr in die Gebirgswelten von Rumänien vor der Tür. Beim ↠ Wandern im Königsteingebirge sind wir bereits blauäugig eine Schlucht hinauf gewandert. Morgen soll es für uns in noch größere Höhen rund um den höchsten Berg in Rumänien gehen – den Moldoveanu auf 2.544 Metern.
Der Reihe nach. Heute wandern wir bei Sibiu zunächst durch die flachen Hügellandschaften der Südkarpaten, die unmittelbar vor den Toren von Hermannstadt beginnen. Nach den Städten ↠ Bukarest, ↠ Brașov und eben Hermannstadt, wie Sibiu aufgrund der dort noch immer präsenten deutschen Minderheit auch heißt, ist uns nach Wandern in grüner Natur zumute. Das Ziel: die Hochwiesen von Crinţ, die auf etwa 1.200 Metern Höhe an den Ausläufern der Südkarpaten liegen. Warum wandern wir gerade dorthin? Das wissen wir selbst noch nicht genau.
Graf Dracula, der Farbentöter
Wir verlassen unser Hostel in Sibiu am frühen Morgen, als Siebenbürgen sich von seiner mystischen Seite zeigt. Dichter Nebel durchzieht die Gassen. Der Dunst hat den Fassaden der Altstadt jegliches Blut entzogen, als würde Graf Dracula persönlich heute den Petrus spielen.
Mit einem Zug, der mit seinen berstenden Scheiben eine ausrangierte deutsche Regionalbahn sein könnte, brechen wir zum Wandern bei Sibiu nach Sibiel (zu Deutsch “Budenbach”) auf, einem Vorort von Hermannstadt am Rande der Südkarpaten. An den Zugfenstern rauscht trübste Tristesse vorbei. Als wir nach einer guten halben Stunde aussteigen, sind wir froh, einander in ein paar Meter Entfernung überhaupt zu sehen.
Im Nebel nach Sibiel
Der Bahnhof von Sibiel liegt etwa eine halbe Stunde Fußmarsch vom eigentlichen Ort entfernt. Nicht unüblich für die Region. Auf einer Landstraße kämpfen wir uns durch das Trübsal, nahende Autos erkennen wir nur an den Geräuschen ihrer Motoren. Wie die Landschaft hier am Fuße der Südkarpaten wohl aussieht? Wir wissen es noch nicht genau. Bis die ersten Sonnenstrahlen sich entschließen, die Nebelsuppe auszulöffeln. Ganz gemächlich.
Links und rechts von uns erkennen wir Wiesen und Felder. Wir entdecken blasse, violette Blüten im grau-grünen Gebüsch und blassgrüne Äpfel, die müde von den Bäumen hängen. Auf einer Koppel steht ein Pferd allein auf weiter Flur. Die Sonne kämpft, doch bis ihre Strahlen uns wärmen, soll noch Zeit vergehen. Die Suppe will schließlich genossen werden.
Wanderung durchs Nichts
Angekommen in Sibiel, löst sich der Nebel endlich auf. Wir versorgen uns mit Proviant in einem Minimarkt und beginnen unsere eigentliche Wanderung bei Sibiu. Links von uns plätschert ein Bächlein vor sich hin. Es soll auf den kommenden 15 Kilometern genauso getreuer Begleiter bleiben, wie die der grüne Hang neben uns. Unsere Wanderung bei Sibiu bietet keine schweifenden Aussichten, keine steilen Anstiege in den Südkarpaten – einfach nichts.
Dieses Nichts jedoch schärft unseren Blick für jegliche Kleinigkeiten. Die Kühe, die plötzlich am Wegesrand auftauchen, sind da schon echte Riesen. Am Ufer der Bächleins sehen wir, wie die Sonne den Morgentau verdampfen lässt. Eine Schnecke überquert den Schotterweg und kann sich glücklich schätzen, hier im Nichts auch auf ihrer Augenhöhe genauso viel zu sehen, wie wir auf gut einem Meter 80. Unsere Wahrnehmung ist geschärft, als hätte die alte Frau am Bahnhof uns Drogen in den faden Filterkaffee gemischt.
Fragen über Fragen in den Südkarpaten
Wir verstummen. Links das Bächlein, rechts der grüne Hang. Nach etlichen Tagen auf Reisen gibt es nichts, was wir hier am Rande der Südkarpaten dringend besprechen müssten. Der Plan für die nächsten Tage steht, sofern wir bei unserer Art zu reisen überhaupt von Plänen sprechen können. Und so versinken wir beim Wandern bei Sibiu in Gedanken über die großen Fragen des Lebens.
Was wollen wir eigentlich mit unserem Dasein anstellen? Sind wir mit unseren Jobs zufrieden? Was brauchen wir eigentlich? Haben wir nicht eh schon viel zu viel, obwohl wir im Alltag immer meckern, wir hätten viel zu wenig? Und dabei auch noch Zeit für nichts? Hier im Nichts werden diese Fragen ganz groß. Und so wird das Nichts plötzlich zum Alles.
Die Steigerung des Nichts
Nach dreistündiger Wanderung erreichen wir schließlich die Hochwiesen von Crinţ. Was in unseren Köpfen nach Idylle klang, entpuppte sich als Steigerung des Nichts. Eine Herberge soll es hier geben, in der wir gerne ein Süppchen ausgelöffelt hätten. Doch das Häuschen wird renoviert, und der rumänische Handwerker rät uns erst freundlich, dann schnell schroffer werdend, dass wir das Privatgelände möglichst doch lieber schnell verlassen sollten.
Wären da unten am Hof nur nicht diese blutrünstig kläffenden Schäferhunde, wäre eine rasche Rückkehr auch kein Problem. Aus Respekt nehmen wir einen Umweg entlang der drei Klärbecken in Kauf, bei dem wir aufpassen müssen, nicht in einen der Dutzenden Kuhfladen zu treten. Es stellt sich heraus, dass diese Wanderung in den Südkarpaten unsere wohl bislang skurrilste sein sollte.
Wandern bei Sibiu: Von Crinţ nach Săliște
Eigentlich müssten wir nun ins Nichts zurückkehren, durch das wir den gesamten Vormittag gewandert waren. Doch bei aller neu gewonnenen Liebe zu Leere und Einsamkeit entschließen wir uns, auf dem Rückweg Săliște (zu Deutsch “Großendorf”) anzusteuern, einem weiteren Vorort von Sibiu, der glücklicherweise ebenfalls über einen Bahnhof verfügt. Natürlich ebenso weit entfernt vom Ortskern – direkt an der Autobahn.
Unser Entschluss erweist sich als gute Wahl. Die Hügel der hiesigen Südkarpaten sind alles andere als spektakulär, doch immerhin bekommen wir sie nun einmal zu Gesicht! Unsere vom Nichts geschärfte Wahrnehmung bleibt erhalten. Und so wir erspähen Vogelscheuchen aus Plastikflaschen und den einen oder anderen Schädel verstorbener Weidetiere.
Ein weiser, alter Mann in den Südkarpaten
Brenzlig wird es abermals, als in der Ferne eine Schafsherde erscheint und einer der Schäferhunde wild bellend auf uns zu gerannt kommt. Wir greifen beide zu einem Stock auf dem Schotterweg, mimen die Rolle des Schäfers und kommen auch diesmal mit dem Leben davon. Gut, dass wir uns vorher informiert haben, wie wir uns in einem solchen Fall verhalten sollten!
Als beim Wandern schließlich zum ersten Mal ein Auto an uns vorbeifahren will, strecken wir unsere Daumen heraus und trampen einen Teil des Weges in Richtung Săliște. Am Steuer sitzt ein Rumäne, der mit einer Verwandten von Wildbeerstrauch zu Wildbeerstrauch fährt, um Beeren zu sammeln. Er arbeitet in Berlin – klein ist die Welt. Im Gespräch erklärt er uns, was er in Deutschland an seiner Heimat vermisst: “Rumänien bedeutet für mich Freiheit. Es gibt hier keine Verbote.” – War dieses Nichts, das uns beim Wandern um Sibiu widerfuhr, vielleicht einfach eine Form von Freiheit, die wir so noch nie erlebten?
In Kürze: Unser 1 THING TO DO für Sibiu
Was? Eine Wanderung durch die Ausläufer der Südkarpaten bei Sibiu.
Wo? Unsere Wanderroute startete am Bahnhof von Sibiel, führte uns weiter auf die Hochwiesen der Crinţ (gut ausgeschildert!) und von dort auf dem Rückweg nach Săliște. Von Start- und Endpunkt gibt es gute Zugverbindungen nach Sibiu. Die Gesamtstrecke beträgt circa 30 Kilometer, weshalb du entweder Kondition im Gepäck haben oder einen Teil der Strecke trampen solltest.
Wie viel? An die Kosten für die Zugtickets können wir uns nicht erinnern, was jedoch für einen sehr kleinen Preis spricht. “Nichts” eben.
Warum? Um das Nichts schätzen zu lernen und den Blick für das kleine und große Ganze neu zu schärfen.
Ein 1 THING TO DO für Sibiu ohne über die Stadt selbst zu berichten? Geht so natürlich nicht. In unserem ↠ Sibiu-Reisebericht kannst du nachlesen, wie du deine Zeit in Hermannstadt besser nicht verbringen solltest.
Reisen um zu reisen!
John & Marc
6 Antworten zu “Wandern bei Sibiu: Über die Entdeckung des Nichts”
So schoen geschrieben und so haben wir Rumaenien auch erlebt auf unserer Reise! Die Nebelfotos passen ja wirklich .
Lg aus Norwegen
Ina
http://www.mitkindimrucksack.de
Danke dir, liebe Ina! Ja ja… wenn die Stereotypen über Transsilvanien plötzlich zu Leben erweckt werden. 😀
Liebe Grüße zurück!
So wundervoll beschrieben, dass aus all dem Nichts doch ein sehr interessantes Etwas entstanden ist. *daumenhoch*
Liebe Grüße!
Danke dir und liebe Grüße!
Sehr erheiternd, euer Bericht! 😀 Jetzt merkte ich endlich, wie sehr mir Nichts fehlt. Man möchte spontan aufräumen (kultivieren)in dieser Landschaft.
Schöne Bilderreise!
Tausend Dank! 🙂 Nichts = Nichts = Sehr sehr viel!