Nur 28 Kilometer von Vilnius entfernt, gehört Trakai zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten Litauens. Eine mittelalterliche Wasserburg und pittoreske Holzhäuser machen Trakai zum Symbol baltischer Idylle. Was du tun musst, um diese Idylle schlagartig zu beenden und vor einem Polizeiboot zu fliehen, legen wir dir in unserem Reisebericht aus Trakai ans Herz. Geschrieben von Marc.
Trakai: Ein litauisches Idyll
Der verfallene Gebäudekomplex am gegenüberliegenden Ufer des Galvė-Sees hat es mir von Beginn an angetan. Während ich entlang der Halbinsel von Trakai in Richtung der berühmten ↠ Wasserburg spaziere, fallen meine Blicke immer wieder hinüber zu den bröckelnden Fassaden jener verlassenen Häuser, die hier so gar nicht ins Bild passen mögen. Da ist sie wieder, die Anziehungskraft des Hässlichen.
Es ist schon verrückt. Wahrscheinlich befinde ich mich hier gerade am malerischsten Ort Litauens. Doch zieht mich in Trakai genau jenes hässliche Entlein an, das die Idylle trübt. Umgeben von drei Seen – und rund 200 weiteren Seen im Umland – liegt Trakai auf einer Halbinsel, an deren Ufern ich zunächst in Tagträumen versinke. Der Frühlingshimmel über Litauen spiegelt sich in der klaren Wasseroberfläche. Wie in einer Fernsehdoku über das Baltikum springen Mädchen von einem der zahllosen Holzstege ins Wasser und lassen den Spiegel zerspringen.
Stippvisite auf der Wasserburg von Trakai
Es ist Ende Mai. Zu Hause in Deutschland befindet sich der Frühling in seinen letzten Zuckungen. In Litauen erreicht er gerade erst seinen Höhepunkt. Die Ufer von Trakai strahlen in saftigem Grün, überall sprießt Löwenzahn aus dem Boden, die Kirschbäume sind rosarot und übersät von fleißigen Bienen. Im Ortskern von Trakai setzen die Fassaden der historischen Holzhäuser mal gelbe, mal rote, mal blaue Farbtupfer. Trakai ist zu dieser Jahreszeit ein Rausch der Sinne.
Doch was hat es mit diesem verlassenen Gelände auf sich, das hier so trostlos sein Dasein fristet? Ich begnüge mich zunächst damit, das Areal aus der Ferne zu beobachten und laufe über Holzbrücken zur Inselburg von Trakai. Mit ihren roten, herausgeputzten Fassaden und den akkuraten Türmchen könnte der Kontrast zu ihrem Gegenüber größer nicht sein. Ein Museum im Inneren bietet Einblick ins mittelalterliche Ritterleben. Doch das ist nicht, was mich heute hier in Litauen interessiert.
Karäische Teigtaschen in der Altstadt
Hinter der Burg von Trakai entdecke ich eine winzige Sandbucht, entledige mich meiner Schuhe und Socken, krempele meine Jeans hoch und setze ein paar Schritte hinein ins kühle Nass. Von hier aus zähle ich alleine sieben der 21 kleinen Inseln im Galvė. Zwischen ihnen bahnen sich Segelboote ihren Weg, den sie zu finden scheinen, indem sie ihn nicht suchen. Nie hätte ich gedacht, gleich am ersten Nachmittag unserer ↠ Baltikum-Reise durch Litauen und Lettland einen solch schönen Ort zu besuchen, der das Attribut so sehr verdient.
Zurück in der Altstadt von Trakai grüßt aus den Fenstern erst ein Schutzengel, dann ein Plüschtiger, der nie lernen wird zu fauchen. Etwas abseits des Ortskerns von Trakai halte ich Einkehr im ↠ Senoji kibininė und probiere die typischen Teigtaschen aus der Küche der Karäer, einer jüdischen Religionsgemeinschaft, von denen noch immer mehrere Dutzend in Trakai zu Hause sind. Ich überschätze meinen Hunger, stecke mir eine Teigtasche in den Rucksack und beginne meinen Spaziergang zu jenen Häusern, die an diesem Nachmittag meine eigentliche Faszination auf sich ziehen.
Trakai: Uferspaziergang am Galvė
Auf Höhe der “Halbinselburg” von Trakai, von der im Gegensatz zur bekannteren Wasserburg nur noch Ruinen übrig sind, führt eine Holzbrücke zum gegenüberliegenden Ufer des Galvė. Dort angekommen, ist die Stille noch leiser als im gemütlichen Ortskern von Trakai. Auf einer weiteren Brücke treffe ich einen weißbärtigen Angler, der bei meinem Anblick die Augenbrauen hochzieht. Die inzwischen tief stehende Sonne am litauischen Himmel tut der Mystik ihr Übriges.
Das Objekt meiner Begierde ist von Maschendrahtzäunen umgeben. Es wird mir leicht gemacht zu verstehen, dass Besuchende hier nicht erwünscht sind. Ein Schleichweg jedoch führt auf das Grundstück, ohne dass auf diesem eine Absperrung zu umgehen wäre. Ich fasse mir ein Herz, warte einen ungestörten Moment ab und wage den Schritt ins Ungewisse.
Sonnenuntergang in Trakai
Nach wenigen Metern laufe ich auf ein verlassenes Haus zu, dessen gelbe Holzfassaden lange nicht mehr lackiert wurden. Weiße Säulen im Eingangsbereich verraten, dass das Gebäude eine gutbürgerliche Geschichte hinter sich haben muss. Ein Hotel? Eine Villa? Das Grundstück drumherum jedenfalls ist überwuchert von Gräsern, Löwenzahn und stacheligem Gebüsch. Wo die Natur sich Zentimeter für Zentimeter zurückerobert, stakse ich mit neugierigen Schritten durchs Nichts.
Ich laufe weiter und fühle mich plötzlich in die Geschichte sowjetische Litauens zurückversetzt, an die im historischen Kern von Trakai fast nichts mehr erinnert. Skurril anmutende Betonbauten zeugen von der Sportgeschichte der Stadt. Sie sind Überbleibsel der Stätten des örtlichen Sportvereins Žalgirio Sporto Bazė. Vom betonierten Kai aus begannen wohl die Fahrten der Ruderer:innen. Heute ist die Stelle von Tausenden Glasscherben übersät, die die Farben der langsam gen Horizont schreitenden Sonne in sich aufsaugen.
Heißluftballons über Trakai
Der Sonnenuntergang hat den Himmel über Trakai inzwischen zweigeteilt, über der Inselburg gegenüber treffen sich Blau und Gelb. Ich setze mich ans Ufer und lasse meine Füße vom Kai aus über dem Galvė baumeln. Mit einer Flasche Radler und der übrig gebliebenen Teigtasche leite ich den Abend ein. Vor mir ein romantisches Gemälde mit Burg, See und Farbenspiel, hinter mir Schutt und Scherben.
Ich verschlucke mich fast, als ich obendrein über der Halbinsel von Trakai zwei ↠ Heißluftballons aufsteigen sehe. In aller Ruhe suchen sie ihren Weg nach oben. Leise vor sich zischend setzen sie der abendlichen Szenerie in Trakai zwei i-Tüpfelchen auf. Doch als ich gerade dazu ansetze, tief durchzuatmen und endgültig auf Reisemodus umzuschalten, durchdringt das schrille Pfeifen einer Alarmanlage die Harmonie.
Trakai und ein unerwarteter Abschied
Habe ich die Alarmanlage ausgelöst? Ich bin mir zunächst nicht ganz sicher, bis ich in der Ferne zwei Jugendliche ausmache, die es wohl etwas zu bunt getrieben haben, als sie sich der Villa näherten. Ich jedenfalls bin aus meinem neuerlichen Tagtraum schlagartig erwacht, schlucke hastig den letzten Bissen meiner Teigtasche hinter – und ergreife die Flucht.
Als ich über die Holzbrücke zurück auf die Halbinsel von Trakai laufe, sehe ich aus der Ferne ein Polizeiboot heran eilen. Ich mache es mir am Ufer gemütlich und beobachte, wie sich die zwei Jugendlichen noch immer auf dem verlassenen Grundstück herumirren und per Lautsprecher von der Polizei aufgefordert werden zu gehen. Ich grinse in mich hinein, sehe die Heißluftballons hinter den Bäumen herabsinken und verschwinde klammheimlich in Richtung Bahnhof. War irgendwas?
In Kürze: Unser 1 THING TO DO für Trakai, Litauen
Was? Vom Gelände des ehemaligen Sportvereins die Sonne über der Wasserburg von Trakai untergehen zu sehen.
Wo? Das Gelände des Sportvereins erreichst du, nachdem du die die Holzbrücke auf Höhe der Ruinen der Halbinselburg überquerst und in Richtung Norden bzw. Varnikai spazierst. Den Bahnhof von Trakai erreichst du von Vilnius aus nach gut einer halben Stunde Fahrtzeit. Die Station ist etwa drei Kilometer von der Inselburg entfernt (↠ aktueller Fahrplan). Wichtig: Insbesondere die gelbe Villa steht unter Objektschutz (Stand: Mai 2017), also treib es besser nicht zu bunt.
Wie viel? Die Kosten für die Zugfahrt von und zurück nach Vilnius belaufen sich auf circa vier Euro pro Person (Stand: Dezember 2021).
Warum? Um im Sonnenuntergang die Heißluftballons über Trakai aufsteigen zu sehen.
Trakai besuchte ich im Rahmen eines Tagesausflugs von Litauens Hauptstadt aus, über die du in unserem ↠ Vilnius-Reisebericht mehr erfährst. Weitere Ausflüge ab Vilnius führten in den ↠ Aukštaitija-Nationalpark sowie nach ↠ Kaunas. Für unsere ↠ Litauen-Reisetipps haben wir außerdem ein paar weitere Reiseblogger:innen nach ihren Lieblingsorten gefragt.
Reisen um zu reisen!
John & Marc