Strandurlaub und Städtereise in einem? Odessa gilt vielen noch immer als Perle am Schwarzen Meer. Unserem Eindruck nach eher ein Titel aus der Vergangenheit. In unserem Odessa-Reisebericht zeigen wir die Merkwürdigkeiten einer Stadt, deren Lächeln wir lange suchen mussten – am Ende aber doch noch fanden. Geschrieben von John & Marc.
Im Nachtzug von Kiew nach Odessa
Unser Odessa-Reisebericht startet am Hauptbahnhof der Schwarzmeerstadt. Nach knapp zehnstündiger Fahrt im Nachtzug aus ↠ Kiew steht die Sonne tief. Der Himmel pastellfarben, hängt die Ukraine-Fahne auf dem Bahnhofsgebäude so müde wie wir selbst nach unten. Und plötzlich dröhnen da eine Sopranstimme und Fanfaren aus den Lautsprechern!
Gewiss. Wir könnten uns daran gewöhnen, auf diese Weise in einer neuen Stadt begrüßt zu werden. Und doch sind wir uns gerade nicht ganz sicher, ob wir gerade noch träumen, oder wirklich schon in Odessa (ukrainisch: Одеса, Odesa) angekommen sind. Zum Realitätscheck watscheln wir ins McDonald’s vorm Bahnhof. Latte Macchiato. WLAN. Unterkunftssuche. Realität, du bist es.
Tipp: Tickets für den Nachtzug von Kiew nach Odessa kannst du im Vorfeld deiner Reise ans Schwarze Meer auch ↠ online buchen.
Odessa: Schönheit von gestern?
Wir lieben es, mit dem Nachtzug in einer neuen Stadt anzukommen. So haben wir viel mehr Zeit für Erkundungen. Außerdem sind die Straßen am frühen Morgen wie leer gefegt. In Odessa kannst du das wörtlich nehmen: Während wir entlang bröckeliger Fassaden spazieren, kehren ältere Damen den Schmutz der Nacht beiseite. Dabei scheinen alle Haushalte den gleichen Besen zu besitzen. Muss ein gutes Modell sein.
Odessa macht einen stolzen Eindruck auf uns. Wir spüren, dass die Stadt etwas von sich hält, auch wenn dieser Stolz vielleicht eher auf vergangenen Zeiten beruht. Auf dem Weg ins Zentrum können wir uns in jedem Winkel vorstellen, dass die Perle am Schwarzen Meer eines Tages wirklich prunkvoll war. Heute aber bröckelt es an allen Ecken und Enden. Balkone mit bedrohlichen Rissen werden mühevoll mit Eisenstangen gestützt. Straßenbahnen poltern durch Gleise, die rein optisch betrachtet selbst in Berlin seit Jahrzehnten stillgelegt wären.
Vom Zentrum zum Strand von Odessa
Wer uns kennt, der weiß, dass wir genau solche Städte eigentlich lieben. Ein bisschen ranzig darf es gerne sein. Lieber noch ein bisschen mehr! Aus irgendeinem Grund jedoch möchte der Funke in Odessa nicht überspringen. Haben wir uns nach unserem ersten ↠ Balkan-Trip satt gesehen an Städten mit morbidem Charme?
Nach der ernüchternden Hauptattraktion Odessas, der ↠ Potemkinschen Treppe, die weder sonderlich schön ist noch einen tollen Ausblick bietet, entschließen wir uns direkt zum Strand zu laufen. Genauer gesagt zu einem der Strände, denn Strände besitzt Odessa gleich mehrere. Auf dem Weg zwischen Hafen und Taras-Schewtschenko-Park begleiten uns Schattenmenschen, die Streetart-Künstler:innen hinterlassen haben. Bis wir schließlich in eine weitere kuriose Szenerie eintauchen, die Odessa uns an diesem Morgen präsentiert.
Festivalstimmung am Delfinarium
Es ist Montag, und noch immer acht Uhr morgens. Als wir zum ersten Mal in unseren Leben am Schwarzen Meer stehen, läuft im Hintergrund plötzlich ziemlich gute elektronische Musik! In den Strandcafés am ↠ Delfinarium breiten die ersten Menschen bereits ihr Laken zum Sonnenbad aus, bestellen sich ein Heißgetränk oder genießen einfach die milde Morgenbrise. In uns steigt ein Hauch von Festivalstimmung auf, während auf dem steinernen Steg vor uns ukrainische Angler ihre Angeln auswerfen. Sind es diese Kontraste, die Odessa ausmachen?
Wir setzen unseren Spaziergang entlang der Strandpromenade fort. Die Strände sind mal von Algen übersät, mal ganz ansehnlich. Hier und da sorgt ein altes Fischerboot für ein hübsches Fotomotiv. Ein skurriler Wagen mit Comic-Motiven zeigt Cinderella mit bunten Pillen und Schneewittchen mit Kippe im Mund. Passend dazu liegen wir am Strand inmitten Dutzender Zigarettenstummel. Das Schmuddel-Image Odessas in unseren Köpfen verfestigt sich.
Odessas Strände am Schwarzen Meer
Es gibt Städte, deren Strand pulsierendes Zentrum ist. ↠ Tel Aviv zum Beispiel. Hier am Schwarzen Meer jedoch haben wir eher den Eindruck, dass Odessa und seine Strände Welten trennt. Das liegt auch daran, dass die Strände vom Zentrum durch einen relativ breiten “Parkstreifen” getrennt sind und man nicht wie in der israelischen Mittelmeermetropole mal eben so ins Wasser springt.
Mit ↠ Otrada, der auch über eine abenteuerliche Seilbahn erreichbar ist – Einstieg beim Mauretanischen Bogen – und ↠ Lanscheron besitzt Odessa zwei Strände, die vom Stadtzentrum aus fußläufig zu erreichen sind. Kleinere Strände findest du auch südlich des Zentrums von Odessa, zum Beispiel im Bezirk Arkadia. Unser Eindruck der ersteren beiden: So viel ungenutztes Potenzial! Auf Sauberkeit scheint an zumindest an diesen Stränden wenig Wert gelegt zu werden – und wir sind wirklich nicht pingelig. Um Odessas Lage am Meer zu genießen, lohnt es hier mehr, am Abend eines der Strandrestaurants oder eine der Strandbars aufzusuchen. Die Dunkelheit versteckt den Dreck.
Tipp: Für ein paar entspannte Stunden am Schwarzen Meer sind die Strände Odessas dennoch okay. Von ihrer schönsten Seite zeigt sich die vermeintliche Perle am Schwarzen Meer hier – unser Meinung nach – nicht. An Strandurlaub ist direkt in Odessa kaum zu denken – aber vielleicht versuchst du dein Glück einmal an diesen ↠ Stränden in der Ukraine.
Horror-Riesenrad im Luna Park
Nach erstem Bad im Schwarzen Meer und längerem Nickerchen am Strand setzen wir unsere Reise durch Odessa fort. Inmitten eines weniger ansehnlichen Wohngebiets und Straßenzügen mit Hundekot-Odeur landen wir im Luna Park, einem der für einstige Sowjetstädte so typischen Freizeitgelände.
Das Riesenrad missbrauchen wir sogleich als Aussichtsplattform. Und auch dieses hat seine beste Zeit hinter sich: Während wir im Schneckentempo Meter für Meter höher steigen, quietscht und knarrt es permanent. Auf dem Höhepunkt angekommen, sehen wir keine Menschenseele mehr weit und breit. Horrorfilm-Stimmung. Es hätte uns nicht überrascht, hätte uns im Waggon nach uns plötzlich ein Clown seine fiese Grimasse gezeigt.
Odessas Hostel des Grauens
Zu allem Überfluss checken wir in Odessa im Chekhov Hostel ein, in dem man für knapp vier pro Person und Nacht wahrlich nichts erwarten kann. Dass dem Hotelpersonal der stechende Geruch in den Toiletten jedoch noch nicht aufgefallen ist, erstaunt dann doch. Dreck, Haarbüschel, ein alter Stinkelappen und links daneben die wahre Ursache des Gestanks: ein über den Rand gefüllter Mülleimer ohne Deckel. Angesichts der vielen leeren Betten muss der Behälter seit Wochen nicht geleert worden sein. Ungefähr solange scheint auch niemand mehr geputzt zu haben.
Auch das Duschen im Chekhov wird so zum Abenteuer. Mangels Ablageflächen üben wir uns in Hygiene-Tetris. Ungefährliche Utensilien stellen wir direkt auf Klodeckel, Spülkasten und Waschbecken. Darüber stapeln wir all jene Dinge, die mit den Überresten unserer Vorgänger:innen nicht in Berührung kommen sollen. Einen Sonderplatz erhält die Zahnbürste, die sensibel so hingelegt wird, dass ihr Kopf frei in der Luft schwebt.
Wie uns Odessa zum Grübeln brachte
Nein, Odessa tut uns keinen Gefallen. Auch nach zwei Tagen macht die Stadt auf uns noch immer den Eindruck, dass hier vieles war – aber auch so viel mehr werden könnte! Was hindert Odessa? Ist es der Stolz über die vergangene Schönheit? Die Depression über die politische und ökonomische Lage in der Ukraine? Oder sind wir einfach nur zur falschen Zeit am rechten Ort?
Während das jugendliche Kiew uns mit seiner frischen, lebendigen Art schnell in seinen Bann zog, sorgt Odessa in uns eher für dieses merkwürdige Gefühl im Bauch, wenn man unsicher ist, was man von einer Situation nun eigentlich halten soll. Dabei sind genau solche Orte doch so oft Herde ungeahnter Kreativität! Wir scheitern immer wieder, sie in Odessa ausfindig zu machen. Bis zu diesem einen Moment, der unsere Stimmung aufhellen wird.
Balkan-Party im Zentrum von Odessa
Jetzt aber! Am Abend sind wir nach einem Dinner am Strand fest entschlossen, die Nacht zum Tag zu machen. Es ist zwar Montag, aber als Millionenstadt am Schwarzen Meer sollte Odessa zumindest ein paar nette Bars und Kneipen bieten. Bereits am Strand wurden wir Zeugen einer kleinen, privaten “Balkan-Party”. Auf dem Weg zu ein paar zuvor recherchierten Lokalen im Zentrum zieht eine Gruppe junger Straßenmusiker:innen unsere Neugier auf sich. Sie zieht von Bar zu Bar, schart eine immer größere werdende Menschentraube um sich.
Mitten in Odessa entwickelt sich eine spontane Straßenparty! Doch es ist bereits kurz vor Mitternacht. Der Polizei missfällt der Lautpegel der Pauken und Trompeten zunehmend. Immer wieder ruft ein Polizist durch seinen Lautsprecher. Doch der Meute, hinter der wir herziehen, ist das reichlich egal. Sie feiert immer ausgelassener. Die Menschen tanzen, singen berauscht mit. Und wir beide stoßen vergnügt mit einer Flasche Bier drauf an. Prost!
Das Lächeln von Odessa
Nachdem Odessa bisher einen eher trüben Eindruck hinterlassen hatte, zeigt sich nun das breite Lächeln der Stadt. Waren wir nun doch zur rechten Zeit am rechten Ort? So richtig wissen wir auch jetzt noch nicht, was wir von Odessa halten sollen. Doch die Privatparty mitten im Stadtzentrum zeigt, dass hier vielleicht doch mehr wird, als wir erwartet hatten. Und dass wir Odessa trotz oder gerade wegen aller Merkwürdigkeiten mehr als nur diese eine Chance geben sollten.
Wie wird Odessa wohl in ein paar Jahren ausschauen? “Während Kiew bereits wird, steckt Odessa noch in den Startlöchern”, denken wir uns. Und schauen in die Sterne.
In Kürze: Unser 1 THING TO DO für Odessa
Was? Ein Streifzug durchs nächtliche Odessa.
Wo? Unser 1 THING TO DO ist in diesem Falle kaum zu planen. Es wartet vielleicht am Strand – an einer Bar oder im Nichts – oder im Stadtzentrum auf dich.
Wie viel? Nichts, außer vielleicht das eine oder andere Getränk. Doch Obacht: Der Verzehr alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum ist in der Ukraine verboten, was jedoch nicht für Bars, Restaurants etc. gilt.
Wieso? Um das Lächeln von Odessa kennen zu lernen – und mit einem breiten Grinsen zu erwidern.
Übrigens: Unser 1 THING TO DO, die Fahrt im Horror-Riesenrad und weitere Reisemomente aus Odessa kannst du im Video zu unserem zweiten Südosteuropa-Trip zwischen Kiew und Kotor in Montenegro nachverfolgen:
Von Odessa aus reisten wir mit dem Bus weiter ins Nachbarland Moldau, wo wir mit ↠ Chișinău die – so sagen manche – hässlichste Stadt der Welt besuchten. Aber Odessa ist ja auch die Perle am Schwarzen Meer… – Viele weitere Reisegeschichten aus dem Osten des Kontinents findest du auf unserer Übersichtsseite über ↠ Reiseziele in Osteuropa.
Reisen um zu reisen!
John & Marc
8 Antworten zu “Odessa Reisebericht: Perle von gestern”
Ganz toller Bericht. Aber leider habt ihr die Katakomben verpasst!! Wer ein bisschen neugierig ist, und keine Platzangst oder Angst vor Dunkelheit hat, soll unbedingt rein… Wirklich fazinierend. Ich habe doch von diese Balkanpartys nix gehoert. Interessant!
Love it.
Toller Bericht! Tolle Stadt! Aber bei der Besichtigung lasse ich euch gerne mal den Vortritt. 😉
Bin gespannt auf den Beitrag mit dem stimmigen Preis-Leistungs-Verhältnis für die Übernächigung! 😐
Liebe Grüße
Christian
Danke für das Lob! 🙂 Der Beitrag zum Hostel ist inzwischen online: https://1thingtodo.de/wie-es-ist-fuer-375-euro-in-einem-hostel-zu-uebernachten/
Liebe Grüße zurück!
Spannender Bericht! Dieses Gefühl, nicht zu wissen, was man von einem Ort halten soll, kenne ich auch gut. Oft sind es dann gerade diese Orte, die mich noch länger beschäftigen und ganz besonders in Erinnerung bleiben. Bin gespannt auf eure Erfahrungen im Hostel 😀Liebe Grüße von Andrea
Dieses Gefühl hatten wir zum Beispiel auch bei Belgrad, aber irgendwie ist es bei Odessa noch ein bisschen anders. In Belgrad haben wir uns nach Abreise so stark verliebt, dass wir dieses Jahr noch einmal dort waren. Bei Odessa sind wir uns noch nicht ganz so sicher. Aber man sieht sich ja immer zweimal… 🙂 Liebe Grüße!
Ich mag das auch sehr – Orte mit einem leicht ranzigen Anstrich, die sich dennoch ihren ganz eigenen Charme bewahrt haben. Cooler Post!! GLG Heike
Danke dir, liebe Heike! 🙂