Leipzig Geheimtipps

Leipzigs Westen: Entdeckungen eines Weggezogenen

Weisheitszahn, Barfußgässchen, Blechbüchse: Die klassischen Sehenswürdigkeiten in Leipzig hast du bei deinem Besuch schnell erkundet. Wenn du dich auf das Zentrum von Leipzig konzentrierst, fragst du dich vielleicht, wo es ist, jenes Leipzig, dass seit Jahren im Aufwind ist. Fernab vom Augustusplatz in Leipzigs Mitte wirst du fündig. Wir stellen ein paar unserer Geheimtipps für Leipzig vor. Geschrieben von Marc.

Leipzig heute und damals

“Der Eber sagt zu seiner Frau
hör zu du süße kleine Sau,
wir machen heut ne Schweinerei,
und geh’n mal wieder nackidei.”

Ich muss ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, als ich diese poetischen Zeilen im Leipziger Gewandhaus zum Besten gab. Gemeinsam mit meinen Schulkamerad:innen trällerte ich im Mendelssohn-Foyer mit anderen Kinderchören aus Sachsen um die Wette. Für unser Dorf war es eine Ehre, dass wir überhaupt eine Einladung erhielten. Meiner Musiklehrerin stand die Aufregung noch mehr ins Gesicht geschrieben als mir. Ihr Kopf ein knallroter Leuchtballon.

Gut zwanzig Jahre später stand ich mit John abermals im Mendelssohn-Foyer. Diesmal gehörte nicht ich zu den großen Stars des Abends, sondern einzig allein das ↠ Gewandhausorchester, das größte Berufsorchester der Welt. Das Gewandhaus zählt zu den schöneren Gebäuden der DDR-Architektur, innen wie außen. Doch irgendwie stand dieser Abend sinnbildlich für meine Beziehung zu Leipzig: Wenn ich in der Stadt war, sah ich Altbekanntes. Neues hatte ich seit meinem Wegzug nach Berlin kaum entdeckt. Doch irgendwann siegt die Neugier noch immer.

Kultur in Leipzig
Kultur in Leipzig, ganz klassisch: Das Mendelssohn-Foyer im Leipziger Gewandhaus.
Kultur in Leipzig
Das weltberühmte Gewandhausorchester nach getaner Arbeit. Die Schuke-Orgel im Hintergrund verfügt über 6.845 Pfeifen.

Leipzig ist mehr als Bach und Thomanerchor

Wenn wir an Kultur und Leipzig dachten, hatten wir vor allem vier Institutionen im Kopf: Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Auerbachs Keller und Thomanerchor. Das klassische Leipzig springt dir bei einem Bummel durch die Innenstadt laufend vor die Füße. Doch das ist es nicht, was den Reiz der Stadt für mich heute ausmacht.

Während ich seit meinem Auftritt im Mendelssohn-Foyer so einige Zentimeter gewachsen bin, ist auch die Zahl der Einwohner:innen Leipzigs gestiegen. In den 90ern leer stehende Wohnungen wurden renoviert und fanden neue Bewohner:innen. Dass Leipzig hier und da als Klein-Berlin gilt, kann ich nur in Ansätzen nachvollziehen. Doch ein paar Parallelen in der Entwicklung sind nicht von der Hand zu weisen: Wohnen in Leipzig ist noch immer vergleichsweise günstig. Das zieht viele junge Leute an, Studierende, aber auch Kreative und Künstler:innen.

Leipzig Messegelände
Sonnenuntergang am “neuen” Leipziger Messegelände.
Leipzig Geheimtipps
“Mural”, DDR-Version in der Lützner Straße, Leipzig-Lindenau.

Geheimtipps in Leipzigs Westen

Besonders deutlich wird dies westlich des Zentrums, wo mit den Stadtteilen Lindenau, Neulindenau und Plagwitz drei Geheimtipps lauern, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten große Veränderungen durchgemacht haben. Auch wenn das szenige Leipzig sie wohl längst nicht mehr als Geheimtipps wahrnimmt. Hat auch was von Berlin. Mit Tapetenwerk, Baumwollspinnerei und Kunstkraftwerk laden drei (und noch mehr) ehemalige Industrieareale zu Ausstellungen und Streeart-Touren.

Leipziger Baumwollspinnerei

Als wir auf dem Gelände der ↠ Leipziger Baumwollspinnerei ankamen, hatten wir noch ein wenig Zeit, bis die nächste Führung durch den riesigen Gebäudekomplex stattfand. Wir ließen uns im Café nieder, tranken einen Chai Latte, nachdem wir uns durch ein Labyrinth aus Pfützen gekämpft hatten. Regentropfen sausten die Fensterscheiben hinab. Die Szenerie passte zum schmuddeligen Industriecharme, der hier noch nichts Großartiges erwarten ließ.

Die Backsteingebäude des zehn Hektar großen Geländes beherbergten Anfang des 20. Jahrhunderts die größte Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas. Noch 1989 arbeiteten hier rund 4.000 Menschen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Areal zu einer kleinen Stadt für sich. Es entstanden Kindergärten, eine Schule, Wohnungen für Arbeiter:innen. Manche von ihnen sollen hier quasi ihr gesamtes Leben verbracht haben.

Kultur in Leipzig
Auf zehn Hektar erstreckt sich in Leipzig-Lindenau das ehemalige Gelände einer Baumwollspinnerei, das heute Ateliers, Galerien und Ausstellungen beherbergt.
Kultur in Leipzig
Das Gelände der Baumwollspinnerei zu ihrem 25-jährigen Bestehen im Jahr 1909.

Industriekultur in Leipzig

Auf unserer ↠ Führung erfahren wir, dass der Werksbetrieb nach der Wiedervereinigung eingestellt wurde. Wie so viele Industriegebäude und -flächen in Leipzig und im Osten Deutschlands drohte auch der Baumwollspinnerei der langsame Verfall. Doch auf der Suche nach günstigem Wohnraum ließen sich schon bald die ersten Künstler:innen auf dem Gelände nieder. In Halle 14 sitzt heute das gleichnamige Kunstzentrum. Ihre Mischung aus Industriearchitektur und Ausstellungsflächen macht selbst ohne aktuelle Ausstellung einiges her.

Alle Galerien auf dem Gelände vorzustellen, wäre zu viel des Guten. Doch während uns zwischen den Backsteinfassaden der Wind ins Gesicht blies, steckte uns die Kreativität an, die auf den Höfen der Baumwollspinnerei aus allen Ecken sprießt. Plötzlich wandelte sich Lethargie zur Lust auf Entdecken. Am Ende schien sogar der Himmel genug von allzu viel Traurigkeit zu haben, riss auf und ließ der Sonne Vortritt. Netter Typ.

Kunstkraftwerk Leipzig

Nur wenige hundert Meter von der Baumwollspinnerei entfernt, befindet sich ebenfalls in Leipzig-Neulindeau ein Gebäude, das statt dem Verfall preisgegeben zu werden nun zu Ausflügen in eine Welt der Kunst und Illusionen lädt: das ↠ Kunstkraftwerk Leipzig. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts erzeugten hier fünf Dampfmaschinen Strom für die Straßenbahnen im westlichen Leipzig. Heute verschmilzt die Industriearchitektur des früheren Kraftwerks mit zeitgenössischer Kunst.

Immersive Art lautet das Stichwort: Kunst als Bewegtbilder, die sich um dich herum bewegen und alle Wände samt Decken und Böden der einstigen Fabrikräume einbeziehen. Begleitet von eindringlicher Musik, die dir an Ort und Stelle das Gefühl vermittelt, selbst Teil des Kunstwerks zu werden. Du stehst ja schließlich mit beiden Füßen drauf – und kannst dich frei darin bewegen.

Karl-Heine-Kanal

Einmal in den Bann gezogen, brachen wir zu einem späteren Zeitpunkt zu einem weiteren Ausflug in Leipzigs Industriekultur auf. Wir orientierten uns am ↠ Karl-Heine-Kanal, benannt nach Leipzigs Industriepionier schlechthin, und realisierten abermals, dass das “Dreiländereck” aus Plagwitz, Lindenau und Neulindenau nur so vor vor Geheimtipps wimmelt.

Der Karl-Heine-Kanal ist von oben betrachtet keine Schönheit. Bei Weitem nicht: Es roch laufend nach Pisse, leere Pizzakartons zeugten vom Mitternachtssnack der Nacht davor. Kein Wunder, dass gefühlt mehr Leute mit Kanu und Kayak auf dem Wasser unterwegs waren als auf dem Uferweg. Nicht nur deswegen lohnt es sich, das Ufer immer mal wieder zu verlassen und stattdessen kreuz und quer durch die Straßen zu laufen. Streetart trifft auf DDR-Relikte, verfallene Mietshäuser treffen auf frisch renovierte. Eine Stadt im Wandel.

Tipp: Kanus, Kayaks und Co. kannst du zum Beispiel beim ↠ Bootsverleih Klingerweg sowie im ↠ Stadthafen Leipzig leihen. Eine Reservierung ist zu empfehlen. Für Kaffee und Kuchen zwischendurch kannst du einen Stopp im ↠ Café Oink direkt am Karl-Heine-Kanal einlegen.

Leipzig Geheimtipps Karl-Heine-Kanal
Stelzenhaus am Karl-Heine-Kanal, erbaut in den 1930er Jahren.
Leipzig Geheimtipps
Auf einem Spaziergang durch Leipzigs Westen triffst du zum Teil noch immer auf unrenovierte Mietshäuser.

Tapetenwerk Leipzig

Bei einem unserer Abstecher weg vom Karl-Heine-Kanal trafen wir hinter dem Henriettenpark auf das ↠ Tapetenwerk Leipzig. Davor ein alter Bulli, ausgebaut zum Schlafzimmer mit strahlend weißer Bettwäsche. Passte ins Bild. Im Gegensatz zur Baumwollspinnerei wurden in der einstigen Tapetenfabrik bis 2006 immerhin noch Platzdeckchen für die Lufthansa produziert. Heute auch hier: Ateliers, Streetart, Coworking und eine Kantine, in der du unter der Woche lunchen kannst.

Vor deinem Besuch lohnt ein Blick in den Veranstaltungskalender, um das Areal bestmöglich kennenzulernen. Doch auch die Freiluftgalerie allein mit Murals, Stahlkunst und einigen wenigen offensichtlichen Kunstwerken ist den Ausflug wert. Die Leipziger Version von instagrammable. Aber bitte keine ausufernden Pseudoshootings.

Leipzig Industriekultur
Hat da jemand Pseudoshooting gesagt? Wir beide am Tapetenwerk Leipzig.
Leipzig Industriekultur
Die Freiluftgalerie des Tapetenwerks kannst du jederzeit bestaunen.

Westwerk und Kaiserbad

Zurück am Karl-Heine-Kanal zeigt ein weiteres Beispiel Leipziger Industriekultur, dass auch Leipzigs Kreativzentren keine Selbstverständlichkeit sind. Das ↠ Westwerk Leipzig hat mindestens eine Debatte über Kunst und Kommerz hinter sich. Ateliers gibt es noch immer, aber auch einen Supermarkt – und spätestens seitdem auch eine linke Szene, die die Entwicklung von Leipzigs einziger in ihren Außenmauern erhaltener Gießerei im Auge behält. Denn sobald der Kommerz die Kreativen verdrängt hat, verliert auch dieser Artikel seinen Wert.

Was sie wohl vom ↠ Kaiserbad direkt nebenan hält? Das Restaurant samt Biergarten ist umringt von – abermals – Streetart, und – natürlich – Karl-Heine-Kanal, serviert Burger, Nudelbowls und Co. Das Lokal ist zu geleckt, um den alternativ angehauchten Schein zu wahren. Sei’s drum: Für uns gab’s Burger, Zitronentarte und hausgemachte Limonade, eine überaus freundliche Bedienung und das Gefühl, willkommen zu sein. Kreuzberg hat seine wilden Zeiten ja auch schon hinter sich – und wir lieben es immer noch.

Buntgarnwerke

Wir beendeten unseren zweiten Rundgang in Leipzigs Westen auf der Industriestraße, die die Weiße Elster dort überquert, wo der Karl-Heine-Kanal beginnt. Im Blick ein weiteres Beispiel Leipziger Industriekultur, das von Anfang an jedoch nach völlig anderem Konzept in die neue Zeit geholt wurde. In den Buntgarnwerken, Deutschlands größtes Industriedenkmal und größter Gebäudekomplex der Gründerzeit in ganz Europa, findest du keine Ateliers, sondern schlichtweg Wohnungen und Apartments für längere Aufenthalte.

Nach Baumwollspinnerei, Kunstkraft, Tapetenwerk ist das aus unserer Sicht als Ausflügler schade. Zu gerne würden wir ins Innere der Gebäude schauen, das erkunden, was von der Vergangenheit geblieben ist, was geworden ist und was werden wird, werden könnte. Werden unsere jüngst entdeckten Geheimtipps ebenso glatt renoviert? Wird das Kreative hier erhalten bleiben, oder wird es an andere Orte ziehen? Fragezeichen, die Leipzig mit vielen Städten im Umbruch teilt. Fragezeichen, die meine Neugier neu entfachten. Und die nicht immer eine Antwort brauchen.

In Kürze: Unser 1 THING TO DO für Leipzig

Was? In Leipzigs Industriekultur einzutauchen.
Wo? Möglicher Ausgangspunkt ist der S-Bahnhof Plagwitz. Das geläufigere Verkehrsmittel in Leipzig ist jedoch die Straßenbahn (Linie 3 Richtung Knautkleeberg oder 14 nach S-Bahnhof Plagwitz).
Wie viel? Freiluftgalerie im Tapetenwerk, die Höfe der Baumwollspinnerei sowie eine Streetart-Tour rund um den Karl-Heine-Kanal kosten nichts. Die Eintrittspreise für Kunstkraftwerk sowie die Kosten für eine Führung in der Baumwollspinnerei entnimmst du den jeweils verlinkten Webseiten.
Warum? Um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Leipzigs kennenzulernen – und die Messestadt von jener Seite zu entdecken, die dich vielleicht erst aufbrechen lassen hat.

Das Kontrastprogramm zu den Geheimtipps im Leipziger Westen findest du im Leipziger Umland. Aber wer hat schon etwas gegen romantische Parks wie auf ↠ Kloster Altzella oder geheimnisvolle Burgen im kaum bekannten ↠ Muldental einzuwenden? Sächsische Vielfalt eben. Mehr dazu erfährst du in den verlinkten Artikeln sowie in unserer Zusammenstellung einiger ↠ Ausflugsziele in Sachsen.

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