Kiew Reisebericht

Kiew Reisebericht: Im Schwebeflug über den Dnipro

Unsere Entscheidung, die ukrainische Hauptstadt zu besuchen, löste im Vorfeld der Reise überwiegend Erstaunen aus. Ein Trip in die Ukraine, wo dort doch Krieg herrscht? Vor Ort lernten wir eine junge Stadt kennen, die nicht nur feiern, sondern auch abschalten kann. Unser Kiew-Reisebericht über Brotlimonade, Rettichschnaps und einen waghalsigen Flug über den Dnipro. Geschrieben von John.

Einstieg: Alles ganz schön günstig in Kiew

Erste Station unseres zweiten Trips durch den Südosten Europas ist die ukrainische Hauptstadt Kiew (ukrainisch: Київ, Kijiw). Vom kleinen und äußerst übersichtlichen Flughafen Schuljany fahren wir mit dem Taxi direkt zur Wohnung unserer Gastgeber in der Nähe des Olympiastadions. Olympiastadion? Richtig gehört: Obwohl Kiew nie Austragungsort der Olympischen Spiele war, steht mitten im Stadtzentrum das Olimpijskyj-Stadion.

Die Fahrt zu unseren Gastgebern kostet uns 1,50 Euro. In Berlin hätten wir für dieselbe Strecke locker das Zehnfache geblecht! Von unseren Gastgebern erfahren wir später, dass ein Monatslohn von 500 Euro in Kiew schon Luxus gleichkommt. Für Reisende aus Deutschland ist Kiew folglich ein günstiges Pflaster. Eine U-Bahnfahrt kostet umgerechnet 15 Cent, die Schachtel Kippen 50 Cent (Stand: August 2016). Heißt: Wir gönnen uns hier so richtig.

Kiew Sehenswürdigkeiten
Der Hauptbahnhof Kyjiw-Passaschyrskyj im Abendlicht.

Restaurant-Tipp: Zu Tisch bei “Katjuscha”

Unsere Gastgeber laden uns am Abend auf eine Zeitreise zu Katjuscha ein, eine Restaurantkette, die sowjetische Küchentraditionen kulinarisch aufrecht erhält. Neben Wareniki, den ukrainischen Pelmeni, teilen wir uns einen Teller Sálo, was nichts weiteres ist als Speckstreifen garniert mit üppigen Scheiben Knoblauch. Ein Beweis dafür, dass man wohl jede Zutat veredeln kann, wenn man nur genügend Knoblauch dazu schmeißt.

Noch einprägsamer jedoch sind diese furchtbaren vier Centiliter Meerrettichschnaps, den unsere Gastgeber uns besonders ans Herz legen. Dieser schmeckt nicht nur, wie er klingt, sondern eigentlich noch viel schlimmer. Etwas angewidert von den ersten Tropfen überlasse ich Marc gern mein Glas. Natürlich lässt er sich nicht lumpen, mit nun der doppelten Menge jenes beißend scharfen Getränks seine Speiseröhre verätzen zu lassen.

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Dnipro und Skyline von Kiew vom Plateau des Bogens der Völkerfreundschaft aus gesehen.

Kiew-Reisebericht, Tag 1: Von “Mutter Heimat” zum Dnipro

Startpunkt Mother Motherland

Im Vorfeld unserer Erkundungstour am nächsten Tag ließen wir uns von unseren Gastgebern ein paar Empfehlungen geben. Wir starten am Denkmal Rodina-Mat, auf Deutsch “Mutter Heimat”, auf Englisch nicht besser zu übersetzen als mit „Mother Motherland“. Zum ersten Mal fällt uns hier auf, dass wir es hier mit einer deutlich militarisierteren Gesellschaft zu tun haben als daheim. Wir fühlen uns dabei nicht wirklich wohl. Doch wir kommen eben auch nicht aus einem Land, in dem Krieg herrscht.

Anschließend besuchen wir das prächtige Kiewer Höhlenkloster ↠ Lavra, ein riesiger Komplex mit mehreren prunkvollen Sakralgebäuden. Wir schlängeln uns weiter durch die Straßen der Stadt, vorbei am berühmt berüchtigten ukrainischen “Prügelparlament”, und erreichen schließlich die Gegend rund um den Majdan.

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Die Mutter-Heimat-Statue befindet sich auf einem weiten, ruhigen Areal mit Blick auf den stets präsenten Dnipro.
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Die Uspenski-Kathedrale mit ihren goldenen Dächern wurde während der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gesprengt und zwischen 1998 und 2000 wieder aufgebaut.

Majdan: Platz mit Geschichte

Die Gehwege hinunter zum Unabhängigkeitsplatz sind beiderseits gefüllt mit Blumen und Bildern. Überreste von Barrikaden sind zu sehen. Wir finden uns in der Allee der Helden der Himmlischen Hundert wieder (Heroyiv Nebesnoyi Sotni Alley). Portraits zeigen die Gesichter jener über 100 Menschen, die bei den Majdan-Protesten zwischen November 2013 und Februar 2014 ums Leben kamen. Sie werden in Kiew heute als die “Himmlischen Hundert” bezeichnet.

Einerseits wirkt diese Straße auf uns wie ein staatliches Mahnmal, welches mit Fähnchen und Wimpeln in Blau und Gelb derart patriotisch ausgeschmückt ist, dass sich die Szenerie irgendwie merkwürdig anfühlt. Andererseits kommen in uns aber auch sentimentale Gefühle auf, die sich am Ende der Straße weiter verstärken. Direkt gegenüber vom Majdan, einer der zentralen Sehenswürdigkeiten in Kiew mit turbulenter Geschichte, befindet sich eine Blumenuhr. Ihr Ziffernblatt wird in Form von gelben Sternen dargestellt. Der Hintergrund ist dunkelblau. Die Uhr symbolisiert die europäische Flagge.

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Vor zwei Jahren Schauplatz der Euromajdan-Proteste: Der Majdan Nesaleschnosti, zu Deutsch “Platz der Unabhängigkeit”.

Eine Begegnung mit Europa

Beim Anblick von Blumenuhr, Barrikaden und Portraits macht es Klick in unseren Köpfen. Wir haben das Gefühl erst jetzt zu verstehen, was hier eigentlich los war und welche Bedeutung das hat – auch für uns. Hier am Majdan haben teilweise mehr als eine halbe Million Menschen demonstriert, unter anderem für die Annäherung an Europa und seine Werte. Dutzende Menschen opferten ihr Leben für Freiheit, Demokratie, für soziale Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit.

Da standen wir nun mit diesen Gedanken auf dem Majdan. Berührt vom Willen der Menschen und vom Ausgang der Proteste, der die Ukraine letztlich spaltete, die Annexion der Krim mit sich brachte und für einen Tiefpunkt in der Beziehung zwischen Europa und Russland sorgte. Aber auch voller Wut auf die Menschen, die in Deutschland und anderen mittel- und westeuropäischen Ländern gegen europäische Grundwerte auf die Straße gehen.

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Auf dem Majdan grüßt die “Goldelse” Kiews, das 63 Meter hohe Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine.

Trubel unterm Bogen der “Völkerfreundschaft”

In Gedanken vertieft setzen wir unseren Stadtspaziergang fort und landen schließlich am Bogen der Völkerfreundschaft. Ein krasser Kontrast tut sich auf: Das Denkmal in Sowjet-Look wurde einst im Zeichen der Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland errichtet. Rund um den 60 Meter hohen Titanbogen versprühen Fahrgeschäfte, Imbissbuden und ein Outdoor-Turn-Event Volksfeststimmung.

Als kleine Adrenalin-Junkies triggert uns vor allem der SkyPark Trolley: Per Zip-Line kannst du damit einen halben Kilometer lang über dem Dnipro schweben! Einzig: Die Schlange ist uns angesichts von mehr als 30 Grad im Schatten einfach zu lang. Wir beschließen, erstmal die Brücke auf die Flussinsel Truchaniw zu nehmen – und nähern uns so zum ersten Mal unserem 1 THING TO DO für die ukrainische Kapitale.

Denkmal der Völkerfreundschaft Kiew
Das Denkmal der Völkerfreundschaft wurde anlässlich der 1.500-Jahr-Feier Kiews errichtet und 1982 fertigstellt.

Baden in Kiew: Dnipro-Insel Truchaniw

Auf der 450 Hektar großen Insel inmitten des Dnipro befindet sich der längste Sandstrand Kiews. Wir suchen uns ein feines Plätzchen, um uns zu sonnen, ein bisschen zu schlummern und später den Sonnenuntergang zu beobachten. Vom Bad im Dnipro rieten unsere Gastgeber allerdings aufgrund der im September kräftig blühenden Algen ab. Einige Einheimische hält dies allerdings nicht ab, und so finden wir uns mitten in der 2,8-Millionen-Stadt überraschend im Strandgewusel wieder.

Auf dem Weg zurück zu unseren Gastgebern überqueren wir noch einmal die Parkowy-Brücke. Wir halten immer wieder an, um die Farbenmalereien der bereits untergegangenen Sonne über dem Kiewer Stadthimmel zu genießen. Eine vierköpfige Band aus Straßenmusikern untermalt den Moment mit einem ziemlich experimentellen Electro-Sound.

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Die Flussinsel Truchaniw ist die größte Insel des Dnipro in Kiew und verfügt über feine Sandstrände.
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Truchaniw erreichst unter anderem über die Parkowy-Brücke. Auf der Insel angekommen, fällt der Blick sofort zurück auf den Bogen der Völkerfreundschaft.

Kiew Reisebericht, Tag 2: Entdeckungen auf Truchaniw

Per Zip-Line über den Dnipro

Angesichts der riesigen Fläche der Insel entschließen wir uns, dort tags darauf an Ort und Stelle weiter auf Erkundungstour zu gehen. Dieses Mal allerdings entscheiden wir uns doch noch für den Luftweg und sausen in Windeseile per Seilrutsche über den Dnipro. Drei, zwei, eins: Hände hoch und abgeflogen!

Unter uns blaues Wasser. Hinter uns der Titanbogen. Links von uns die Skyline von Kiew. Zack, zack, zack. Mit jedem Millimeter nehmen wir mehr Fahrt auf. Erst wenige Meter vor Ende des Flugs über den Dnipro werden wir abrupt abgebremst und unsere Beine in die Luft katapultiert. Ein Moment des Nervenkitzels.

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Mit der Seilrutsche am Bogen der Völkerfreundschaft legst du mehr als 500 Meter im Sauseschritt zurück.
Der Dnipro, hier von der Moskauer Brücke aus gesehen, ist mit einer Länge von 2.201 Kilometern der drittlängste Fluss Europas.

Truchaniw: Raue Natur inmitten der Stadt

Als wir den Boden wieder unter unseren Füßen spüren, holen wir uns mit leicht wackeligen Knien erst mal einen Becher Kwas, das ukrainische Volksgetränk schlechthin. Die prickelnde, braune Limonade aus Brot gibt es in Kiew an jeder Ecke frisch gezapft zu kaufen. Einmal genippt, vergessen wir schnell, dass wir hier gerade quasi flüssiges Brot trinken, und sind geneigt, an jedem weiteren Kwas-Stand abermals Halt zu machen.

Mit einem Becher Kwas in der Hand überrascht uns Truchaniw inmitten der Metropole Kiew nun mit jeder Menge Natur. Damit meine ich nicht angelegte Parks, künstliche Alleen oder Blumenbeete, sondern dichte Wälder, trübe Teiche, überwucherte Trampelpfade, matschigen Schlamm und chaotisch umher schwirrende Libellen.

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Unterwegs auf den Trampelpfaden der 450 Hektar großen Dnipro-Insel Truchaniw.
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Auf Truchaniw findest inmitten von Kiew grüne Natur und genügend Raum zur Erholung vom Großstadttrubel.

Der Dnipro, die Seele Kiews?

Uns beschleicht das Gefühl, dass hier ein Stück der wahren Seele der ukrainischen Hauptstadt schlummert. Jugendliche springen Freude strahlend in den Dnipro. Ergraute Männer werfen mit einem Kippchen im Mund ihre Angelroute aus. Pärchen liegen auf dem feinen Sand, genießen die Sonne. Eine Familie breitet ihre Picknickdecke am schilfumsäumten Ufer aus. Auf dem Wasser drehen Kanufahrer mit muskulösen Oberarmen ihre Runden.

Während wir all diese Alltagsszenen um uns herum beobachten, spazieren wir ziellos durch die mal mehr mal weniger gut erkennbaren Schleichwege auf Truchaniw. Wir setzen uns ans Ufer, lassen unsere Füße im Wasser baumeln, genießen das Nichts. Wir scheren uns nicht darum, dass wir die Größe der Insel völlig unterschätzen, uns Mal für Mal verlaufen. Und entdecken so unser 1 THING TO DO für Kiew.

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Am Truchaniw-Ufer stößt du immer wieder auf kleine Buchten und sandige Strände.
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Im Hintergrund grüßt der Glockenturm des Kiewer Höhlenklosters, doch auf Truchaniw scheint die Metropole Kiew verdammt weit entfernt zu sein.

Kiew-Reisebericht: Unser 1 THING TO DO

Was? Ein ausgiebiger Spaziergang auf der Dnipro-Insel Truchaniw.
Wo? Die 450 Hektar große Flussinsel befindet sich inmitten von Kiew und ist sowohl über mehrere Brücken als auch per Wasserbus und Seilrutsche erreichbar.
Wie viel? Der Spaziergang ist natürlich kostenlos, eine Fahrt mit der Seilrutsche kostet etwa acht Euro pro Person (Stand: August 2016).
Warum? Um Kiew von seiner grünen Seite kennenzulernen, abzuschalten, einen Becher Kwas zu trinken und der gemütlichen Seele der Stadt etwas näher zu kommen.

Einige Reisemomente unserer Tage in Kiew – und übrigens auch in Odessa – haben wir auch im Video zu unserm zweiten Trip durch Südeuropa festgehalten:

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Nächste Station auf unserer ↠ Reise von Kiew nach Kotor ist die ukrainische Schwarzmeerküste, über die du in unserem ↠ Odessa-Reisebericht mehr lesen kannst. Odessa erreichst du ab Kiew übrigens bequem mit dem Nachtzug. Auf der ↠ Webseite der ukrainischen Bahn findest du alle Abfahrtzeiten und kannst obendrein schon vor einer Reise Tickets kaufen.

Reisen um zu reisen!
John & Marc

Veröffentlicht oder inhaltlich überarbeitet am:


6 Antworten zu “Kiew Reisebericht: Im Schwebeflug über den Dnipro”

  1. Übrigens habe ich gerade auch begonnen über unsere Wohnmobil-Reise in den “Osten” zu berichten, aber unsere Reise endete ja in Görlitz auf der Altstadtbrücke bzw. in der Mühle an der Neiße, wo ich unbedingt Piroggen essen wollte. Ihr reist ja viel, viel weiter in den Osten! Bin gespannt auf euren Bericht über die Insel im Dnepr.
    https://aktiv60plus.wordpress.com/2016/10/13/goerlitz-alias-goerliwood/
    Herzliche Grüße 🔆Sigrid🔆

  2. Sehr, sehr cooler Artikel über eine anscheinend richtig interessante Stadt, die ich bisher noch gar nicht so wirklich als Reiseziel auf dem Schirm hatte. Euer 1 thing to do klingt wunderbar. In Kazan war ich zum ersten Mal in einer “russischen” Großstadt und war, wenn ich ehrlich bin, ein wenig erstaunt, wie gut es mir gefallen hat. Kiew könnte ich mir also spätestens nach eurem Bericht jetzt auch sehr gut als Trip vorstellen. Kwas habe ich in Kazan auch getrunken. War allerdings nicht sooo mein Fall, aber auf jeden Fall eine interessante Interpretation eines Erfrischungsgetränks 😀
    Liebe Grüße
    Christina

  3. Auf die Idee nach Kiew zu reisen würde ich nie kommen, aber eure Fotos sind sehr beeindruckend und auch euer Bericht über diese Reise. Ihr habt viel entdeckt und mit uns geteilt. Vielen Dank. Liebe Grüße, Sigrid

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